In der U-Bahn nach Ueno sah ich plötzlich einen Mann sitzen, der ein weiser Style-Gott zu sein schien. Er hatte raspelkurzes Haar, war sehr dünn, braun gebrannt und trug einen abgewetzten hellgrauen Tweedanzug, der ihm ein bißchen zu groß war, sein linkes Hosenbein war ein Stückchen hochgerollt. Er trug keine Socken, seine Füße steckten in hellbraunen, scheinbar handgemachten Lederschuhen. Sein verwaschenes Oberhemd war einmal hellblau gewesen, nun deutete nur noch ein letzter Hauch von Farbigkeit darauf hin. Er hatte eine Plastiktüte dabei, und seine Erscheinung wirkte auf mich genauso wie die Sitzbezüge bei All Nippon Airways: Es war, als stelle er bewußt die Perfektion in Frage, als weise er durch seinen Kleidungsstil auf die Vergänglichkeit des Lebens hin.
Ich beobachtete ihn lange, denn er schien ein großer Ästhet zu sein, er strahlte Ruhe und Würde aus. Ich machte meine Begleiterin durch versteckte Handzeichen auf ihn aufmerksam. Sie sagte »Nein, er ist ein Mann, der nach dem Platzen der japanischen Bubble-Economy seine Arbeit verloren hat, nun aber trotzdem in einem Anzug jeden Tag die Strecke zur Arbeit abfährt, weil er die damit verbundene Schmach nicht ertragen kann. Er ist ein Außgestoßener aus der Gesellschaft. Bei uns in Deutschland würde man sagen: Er ist ein Penner. Sehen Sie, wie sich keiner neben ihn setzt, wie er gemieden wird? Die Japaner spüren das Außgestoßensein. Es macht ihnen Angst.«
Christian Kracht: Der gelbe Bleistift (2002)
September 2006 | ||||||
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